(von Hans-Dieter Jahr)
Nachdem Deutschland Frankreich im Jahre 1940 angegriffen und in kurzer
Zeit besiegt hatte, wurde am 22. Juni 1940 der Waffenstillstands-Vertrag geschlossen. Die Eisenbahnen in den Gebieten
Elsass und Lothringen (ehemalige Reichseisenbahnen Elsass und Lothringen) kamen dabei unter Verwaltung der Deutschen
Reichsbahn, genauer die elsässischen Bahnen zur RBD Karlsruhe, die des Raumes Lothringen incl. Luxembourg
zur RBD Saarbrücken.
Als die Waffen schwiegen und man zu einem halbwegs geordneten Bahnbetrieb übergehen wollte, stellte die DRB
fest, dass im Raum der ehemaligen A.L. weit weniger Lokomotiven und Bw- bzw. Aw-Ausrüstungen zur Verfügung
standen als erwartet. Nun begann das Rätselraten nach der im o. g. Vertrag zugestandenen „normalen“ Ausrüstung
an Loks, Wagen und Maschinen für die Instandhaltung und speziell die Suche nach dem korrekten Zeitpunkt der
Soll-Feststellung hinsichtlich dieses Materials.
In einem mir vorliegenden Schreiben „Deutsche Reichsbahn, Eisenbahnabteilungen des Reichsverkehrsministeriums,
34 Fa (W) 11“ vom 16. Juli 1941 „An den Chef des Transportwesens B G O, Paris“ unter dem Betreff „Ausrüstung
von Eisenbahnwerkstätten und Rückführung der Fahrzeuge und maschinellen Ausrüstungen“ heisst
es dazu:
„Nach Artikel 13 des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrages
vom 22. Juni 1940 hat die französische Regierung dafür zu sorgen, „dass in dem besetzten Gebiet das erforderliche
Fachpersonal, die Menge an rollendem Eisenbahnmaterial und die sonstigen Verkehrsmittel vorhanden sind, so wie
sie den normalen Verhältnissen des Friedens entsprechen [...].“
Was war aber nun „normal“?
Der Bestand unmittelbar vor den Kriegshandlungen, also 1939? Oder etwa 1935, als man an Krieg noch nicht dachte
und keine Verlegungen von der unmittelbaren Frontlinie in’s Innere des Landes durchgeführt hatte? Oder auch
die Zeit vor der Entindustrialisierung der Region, also der Rückverlagerung von Produktion in’s scheinbar
sichere Kernland? Oder sogar die Zeit vor der grossen Wirtschaftskrise ab 1929, die auch nicht spurlos an Elsass
und Lothringen vorbeigegangen war, und genug Anlass gab, Loks aus der Region abzuziehen und anderswo einzusetzen,
wo sie dringender gebraucht wurden?
Also hat man erst einmal eine Statistik aufgestellt, die zeigt, wie der Bestandsverlauf seit dem ersten Weltkrieg
ausgesehen hat und dann recht perfide argumentiert. Im o. g. Schreiben heisst es weiter:
„Wie die Anlage 1 aufzeigt, hat der Lokomotivbestand der A.L.
Bahn seit dem Weltkrieg stark geschwankt und seit dem Jahre 1923 dauernd abgenommen [...]“
Dabei wird die Zurückziehung von Loks aus dem unmittelbaren Grenzgebiet vor dem 1. August 1939 (Kriegsbeginn) als kriegsvorbereitende Massnahme apostrophiert, also als nicht mehr „friedensmässig“ dargestellt, so dass der Bestand dieses Datums als „nicht den normalen Friedensverhältnissen“ entsprechend angesehen wird. Da „auch diejenigen Lokomotiven, die in Vorbereitung des Krieges von dort zurückgezogen wurden, wieder in diese Gebiete zurückgeführt werden müssen“, fordert das Schreiben: „Es wären also zum mindesten die Lokomotiven zu fordern, die sich am 31. August 1938 in diesem Gebiet befanden. Das ist der Zeitpunkt, von dem ab die Zurückziehung der Lokomotiven als vorbereitende Kriegsmassnahme anzusprechen ist. Das sind 1263 Lokomotiven.“
Und weiter:
„Dass diese Forderung [...] berechtigt ist, geht daraus hervor,
dass wir bereits jetzt [...] genötigt sind, Elsass, Lothringen und Luxemburg aus unserem Bestand mit Lokomotiven
auszuhelfen.“
Nun bezweifelt der Autor aber auch den Bestand des Jahres 1938 als nicht mehr zutreffend, denn man habe ja planmässig
die Industrie in Elsass-Lothringen klein gehalten und in’s Landesinnere zurückverlagert, woraus sich als „friedensmässig“
ein Durchschnittbestand der Jahre 1930 – 1938 mit 1502 Lokomotiven herleiten liesse. Und man geht sogar noch weiter
zurück, indem argumentiert wird „Eine weitere Möglichkeit
dazu bietet der Bestand der Jahre 1924 bis 1929, abzüglich der kalt abgestellten Lokomotiven. Die Forderung
nach dieser Zahl von 1483 Lokomotiven ist insofern berechtigt, als sie den Bedarf bei „normalen Friedensverhältnissen“
vor der Wirtschaftskrise [...] wohl am besten entspricht, weil sich das Land damals in ungestörter, vom Krieg
noch unbeeinflusster, stetiger Entwicklung befand.“
Letztendlich heisst es
„Wir bitten deshalb
1. auf Grund unserer Feststellungen und Begründungen den französischen Bahnen die Rücklieferung
von 1483 Lokomotiven an die Bahnen in Elsass, Lothringen und Luxemburg aufzugeben. Keinesfalls dürfte diese
Zahl aber unter 1263 Lokomotiven liegen [...].“
„gez. Bergmann“
Man hatte also ein richtig grosses Fass aufgemacht und sich intensiv mit den Bestandszahlen der Jahre ab 1918 (Revanchismus?)
befasst, um daraus ein Druckmittel gegen die SNCF herzuleiten. Interessant ist diese Beschäftigung für
uns heutige Eisenbahnhistoriker deshalb, weil sie Stationierungslisten der Gebiete Elsass, Lothringen und Luxembourg
im Jahre 1939 liefert.
Aber zunächst sehen wir uns einmal die Nachforschungen über die Bestände und deren Veränderung
seit 1918 an. Im zweiten Teil folgt dann die Auflistung der einzelnen Veränderungen ab dem Jahre 1918,
und im dritten Teil die Stationierungsliste der Loks im Jahre 1939.
Statistiken zur Veränderung des AL-Lokomotivbestandes bis zum Jahr 1941 (8 Seiten, 2,3 MByte)